Wiederentdeckung

Hier finden Sie eine Darstellung der verrückten Zufälle und der schwierigen Umstände der Wiederentdeckung im Jahre 1980 und der fulminanten Wiederaufführung von 1984: 

Leseprobe aus: NIKOLAUS BETSCHER – GESTERN HEUTE MORGEN, Seite 19/20, 23/24

Betscher wiederentdeckt.

Eine Spurensuche.

Von Alfred Rude

1980: Das Jahr des großen Jubiläums. 

750 Jahre waren seit dem Tod des heiligen Willebold vergangen. Man feierte. Und das Berkheim-Buch, die Festschrift, zu der ich den historischen Teil beigetragen hatte, weckte neues Interesse an der Geschichte des Ortes und seiner „großen Söhne und Töchter“, insbesondere auch an Nikolaus Betscher. Das ausdrucksvolle Porträt zeigte ihn als würdevollen Prälaten und als interessanten Menschen.

Und gleichzeitig kam die Geschichte des Klosters Rot wieder neu ins Gedächtnis.

Insbesondere das Zitat von dem späteren Bischof von Rottenburg, Paul Wilhelm von Keppler, fasste die Stimmung zusammen:

„Rot ist gefallen wie eine mächtige Eiche im stolzen Schmuck ihrer Kraft, die nur durch starken Axthieb zum Falle gebracht werden kann und an deren Todeswunde man ersehen kann, dass sie noch Lebenskraft auf lange Zukunft hinaus gehabt hätte.“

Alles, was damals über Betscher als Musiker und Komponist bekannt war, fasste Gertrud Beck in ihrem Artikel zusammen: „… seine Kompositionen von Messen und anderen musikalischen Werken fanden in den Klöstern der Umgebung Verbreitung, so außer in Rot auch in Isny und Gutenzell.“ Ferner zitiert Gertrud Beck aus dem oben angeführten Grablied des Michael von Jung und fährt fort: „Welches Instrument Abt Nikolaus spielte, geht nicht hervor; die Orgel ist es nicht, denn sie hat keine Saiten.“ Das war alles.

Viele Fragen blieben unbeantwortet: Was meint Michael von Jung mit den Zeilen seines Grabliedes? Wie genau war Betscher musikalisch tätig gewesen? Hatte er wirklich komponiert? Und wenn ja: Was war es? Wo war es zu finden?

Diese Fragen ließen mich nicht los.

Ein sogenannter Zufall: die heiße Spur

Der nächste Schritt bestand aus einem Zufall: Ich besuchte Frau Gertrud Beck in Ulm, die die Biografie von Nikolaus Betscher im Berkheim-Buch von 1980 verfasst hatte.

Nach langem Überlegen, wie man weitersuchen könnte, sagte sie: „Es gibt doch da so ein hektografiertes Büchlein mit dem Verzeichnis des Archivs des Musikwissenschaftlichen Instituts der Universität Tübingen. Schauen Sie doch da mal rein!“

In den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts hatte Ernst Fritz Schmid in den oberschwäbischen Pfarrhäusern und deren Dachböden und Rumpelkammern und aus verstaubten Schränken von Orgelemporen (so Frau Beck in ihrer humorvollen Art) gesammelt und zu retten versucht, was noch zu retten war. Schmid war Direktor des Musikwissenschaftlichen Instituts der Universität Tübingen und damit Nachfolger von Friedrich Silcher und „Vorläufer“ von Alexander Šumski.

Die Funde wurden in das Schwäbische Landesmusikarchiv in Tübingen gegeben.

Und tatsächlich: In dem unscheinbaren, vergilbten blauen Heftchen, dem Verzeichnis der Funde Schmids von 1963, tauchte der Name Betscher auf! Nicht nur unter Rot an der Rot, sondern auch unter Isny und Gutenzell! Und da stand: „N. Betscher (75–83 Messen)“. Sollten da sogar neun Messen zu finden sein?

Das war die heiße Spur.

Mit zitternden Händen

Die Arbeit an der Ortsgeschichte war abgeschlossen, das Buch noch nicht erschienen, aber im Druck, und sofort machte ich mich auf die intensive Suche nach Betschers Noten. Am Nachmittag des 5. Mai 1980 – es war ein Montag, und er ist mir sehr genau in Erinnerung – war ich von Weil der Stadt nach Tübingen gefahren.

Selbst wenn meine Notizen von dem Tag nicht wären, wüsste ich noch fast alles, was da geschah. Im Schwäbischen Landesmusikarchiv in Tübingen, damals wegen Baumaßnahmen aus dem Pfleghof in der Altstadt ausgelagert in die Mohlstraße, lagen mehrere hohe Stapel von Originalnoten vor mir. Alle handgeschrieben. Handsigniert von NB = Nikolaus Betscher, das mir grafisch schon wohlbekannte Kürzel.

Ich war wie elektrisiert.

Die Hände zitterten, als ich die ersten Noten aufhob, der spezifische Geruch des jahrhundertealten Papiers war wie ein angenehmer Duft, das Herz jubelte: Sie sind gefunden! Ich war der erste seit langem, auf jeden Fall wohl der erste Berkheimer, der bewusst die fast 200 Jahre alten Noten in der Hand halten durfte. Messen, Requien, ein Te Deum, Chorsätze, lateinisch und deutsch, und vieles mehr. Teils sehr umfangreich, teils recht unvollständig.

Es wurden Kopien erstellt von den wichtigsten Blättern. Und nun die wichtige Frage:

Wie kann es weitergehen?

  (…)

Wiederaufführung nach 190 Jahren

Nach weiteren Jahren intensiver Arbeit, deren Fortschritte ich mit Spannung verfolgte, konnte das Ergebnis im Juni 1984 der Öffentlichkeit vorgestellt werden:

Baden-Baden, Rosbaud-Studio des Südwestfunks:

Aufnahme der Missa in C für Soli, Chor und Orchester (1794) mit dem Sinfonieorchester der Universität Tübingen, verstärkt durch Mitglieder des SWF-Sinfonieorchesters Baden-Baden, mit der Christophorus-Kantorei Altensteig und der Camerata vocalis der Universität Tübingen. Solisten: Renate Brosch (Sopran), Sabine Mayer (Alt), Eberhard Schuler-Meybier (Tenor), Richard Anlauf (Bass), Hans Lemser (Klarinette) und Stefan Bleicher (Orgel). Unvergesslich, wie der erste Klarinettist des SWF beim Solo im Gloria (dem „kleinen Klarinettenkonzert“, wie Alexander Šumski es nannte) fast ins Schleudern kam, da der Dirigent das Tempo augenzwinkernd und schalkhaft mal gewaltig angezogen hatte.

Berkheim, Pfarrkirche Sankt Konrad und Willebold, Pfingstsamstag,

9. Juni 1984, 19:00 Uhr:

Die Berkheimer strömen erwartungsvoll zur Vorabendaufführung von Betschers Missa in C von 1794, in kleiner Besetzung mit der Camerata vocalis, dem Universitätschor aus Tübingen, und Orgelbegleitung. Das freudige Erstaunen ist groß ob der zu Herzen gehenden Schönheit von Betschers Musik und der Kompetenz dieser aus Berkheim stammenden Persönlichkeit, eines Bauernsohnes von hier. Das Gefühl ist: einer von uns!

Rot an der Rot, ehemalige Klosterkirche Sankt Verena, Pfingstsonntag,

10. Juni 1984, 16:30 Uhr:

Wiederaufführung der Missa in C von Nikolaus Betscher 190 Jahre nach der Entstehung, und vier Jahre nach der Wiederauffindung. Das Sinfonieorchester der Universität und die Sänger der Camerata vocalis sind aus Tübingen angereist, verstärkt durch das Vocal Collegium Ravensburg. Die Leitung hat Alexander Šumski, in derselben Klosterkirche, in der die Messe wohl uraufgeführt wurde. Unter der Holzhey-Orgel mit dem Wappen Betschers. Die Chortribüne erhebt sich über der Grabplatte mit den sterblichen Überresten des NB.

Bei strahlendem Juniwetter sind Menschen aus nah und fern gekommen: Musikinteressierte, Spezialisten, die Politprominenz Oberschwabens, die Landräte der Kreise Biberach, Ravensburg, Sigmaringen, Ulm und Reutlingen ebenso wie Menschen aus den Dörfern der ehemaligen Prämonstratenser-Reichsabtei Mönchsroth und weit darüber hinaus.

Vor einer überfüllten Klosterkirche fasst Frau Agnes Baum vom Pfarrgemeinderat Rot an der Rot in der Eröffnungsansprache die Stimmung vieler in Worte: „Es ist, wie wenn Nikolaus Betscher persönlich anwesend wäre. Er hört mit zu. Ich spüre es. Er teilt mit uns die Freude, seine Musik wieder an dem originalen Schauplatz erklingen zu hören.“

Am Ziel – und am Anfang

Damals war noch nicht abzusehen, welch große Bedeutung diese Entdeckung und dieses Ereignis für ganz Oberschwaben haben sollte. Jahrzehntelange Forschungen – unter der beharrlichen und kompetenten Federführung von Alexander Šumski – sollten folgen, Betschers Missa in C war die Initialzündung für eine Fülle von Wiederentdeckungen.

Für mich war die ganzen Jahre zu erleben: Es ist an der Zeit, dass die Musik wieder erklingt. Und eine Freude lebte in mir, dass der große Sohn der Gemeinde Berkheim, Nikolaus Betscher, nach fast 200 Jahren eine solche Würdigung erfahren durfte.

© Nikolaus Betscher-Gesellschaft Berkheim e.V.. Alle Rechte vorbehalten. 

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